Es ist leicht, sich an den Märkten vom Tagesgeschäft vereinnahmen zu lassen. Ständig ist etwas los, immer neue Bewegungen. Manche davon sind zufällig und unbedeutend, andere dynamisch und nachhaltig. Und manchmal gibt es Bewegungen, die darüber entscheiden können, wie unsere Zukunft aussieht.
Eine solche Bewegung sehen wir gerade beim Ölpreis. Ich weiß, das Thema steht schon lange auf der Agenda. Viele haben sich bei Wetten gegen den Trend schon die Finger verbrannt. Aber momentan sieht es so aus, als wäre die entscheidende Marke gekommen.
Um etwas Perspektive zu erhalten, helfen langfristige Charts. Ich möchte hier nicht großartig zwischen der Nordseesorte Brent und der US-Sorte WTI differenzieren, denn die langfristige Analyse gilt für beide gleichermaßen. Da nur wenige Chartpakete 30-Jahres-Charts von Öl zeigen, ist es am einfachsten, danach zu googeln.
Das Tief der letzten 30 Jahre liegt knapp über 10 US-Dollar (WTI). Es ist klar, dass der Ölpreis nicht auf Null fallen kann. Denn spätestens bei 10 Dollar würde niemand mehr Gewinn erzielen und das Angebot würde austrocknen. Daher liegt dort das "natürliche Tief".
Dennoch kann sich heute kaum jemand vorstellen, dass der Ölpreis sich nochmal halbiert. Das ist zwar nicht besonders wahrscheinlich, aber möglich. An der Börse gibt es immer Übertreibungen in beide Richtungen. Wer hätte wohl Ende 1998 bei WTI-Kursen von 11 Dollar gedacht, dass der Kurs 10 Jahre später bei knapp 150 Dollar - also dem 13-Fachen - stehen würde?
Momentan ist Öl wieder an einer wichtigen Marke. Der Kurs stand heute tiefer als während der Übertreibung (damals nach oben) während des Golfkriegs im Oktober 1990. Und er steht tiefer als beim Ausverkauf im Jahr 2009. Schon oft waren Kurse in den hohen 30ern ein wichtiges Level, sei es als Widerstand oder als Unterstützung. Es ist die Linie im Sand, auch die wir achten sollten.
Fundamental steht ein Preiskampf hinter dem Kursverfall. Es scheint so, als würden die etablierten Förderstaaten versuchen, die Konkurrenz zu ruinieren, um langfristig die Kontrolle behalten zu können. Denn neue Technologien wie Fracking & Co haben viel höhere Förderkosten und brauchen einen deutlich höheren Ölpreis, um den Breakeven zu erreichen. Bleibt der Kurs dagegen tief, wird es viele Projekte in die Pleite treiben.
Diese Pleitewelle steht uns noch bevor. Die vielen massiven Aktienkurseinbrüche im Ölsektor sind bereits die Vorboten. Wenn wir bei der Preiskampf-These bleiben, muss erst eine solche Bereinigung stattfinden, bevor die etablierten Förderer bereit sein werden, die Fördermenge zu reduzieren. Wenn das so ist, dann kann es noch eine ganze Weile dauern, bis wir wieder deutlich höhere Ölpreise sehen.
Doch es gibt noch ganz andere Fragen: Was, wenn die Welt immer unabhängiger vom Öl wird? Wenn Öl irgendwann nur noch als "alte Welt" von damals zählt? Wenn plötzlich jeder mit einem Elektroauto herumfährt und das schwarze Gold in vielen Industrien längtst durch Alternativen ersetzt wurde? Was, wenn das Undenkbare passiert und Öl seine Bedeutung verliert? Das Klimaschutzabkommen vom letzten Wochenende könnte ein Zeichen dafür sein, dass wir langfristig in diese Richtung gehen.
Das käme natürlich einem Paradigmenwechsel gleich. Wirklich freuen könnten sich darüber aber erstmal wenige. Ganz im Gegenteil, denn in nächster Zeit würde das ein ziemliches makroökonomisches Risiko darstellen, dem schmerzhafte Anpassungsprozesse folgen müssten. Und zwar leider nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische.
Die ganze Rohstoffbranche geht durch einen Boom-and-Bust-Zyklus. Einige Unternehmen werden daran zerbrechen, was zu Kreditausfällen führen wird. Und schon sind die Banken unter Druck. Eins kommt zum anderen.
Deswegen entscheidet sich vieles an der Chartmarke im hohen 30er-Dollar-Bereich. Geht Öl nachhaltig darunter, können nur noch die etablierten Player mit Gewinn fördern. Alle anderen haben dann ein großes Problem.
Dazu zählt auch Russland. Womit wir bei der politischen Dimension angelangt sind. Dass es hier zu brodeln beginnt, zeigt die erneute Schwäche des Rubel im Vergleich zum US-Dollar. Man kann also nur hoffen, das alles gut geht, wenn sich die Welt demnächst zum Kriegseinsatz in Syrien trifft.
Zum Abschluss aber zurück zum Chart. Denn auch psychologisch ist die aktuelle Situation interessant. Das ganze Jahr über haben viele gedacht, das Öl doch endlich wieder steigen „muss“. Die Bullen sind mit dem Einbruch auf neue Tiefs müde geworden. Zudem sind wir nun an der entscheidenden langfristigen Unterstützung angelangt. Trotz des bärischen Szenarios kann es daher sein, dass zumindest eine Erholungsbewegung einsetzt.
Wissen kann das natürlich niemand. Wer der Charttechnik vertraut, kennt die Linie im Sand: Alles steht und fällt damit, ob das langfristige Unterstützungslevel hält und eine Rallye startet. Vielleicht bekommen wir die Antwort dazu noch vor Weihnachten. Passiert das nicht, werden wir wohl noch deutlich tiefere Ölpreise sehen, die auf lange Frist einiges in der Welt verändern werden. Ich hoffe zum Guten.